Zwischen Liebe und Zeit – 1. Teil

Ben hatte als Historiker des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts schon viele Leben rekonstruiert. Leben von großen Politikern, die zum Zeitpunkt ihres Karrierehochs das Weltgeschehen aktiv mitgestalteten. Leben von Künstlern, die mit ihren Werken ganze Massen begeisterten. Leben von unscheinbaren Leuten, deren Leben er lückenlos dokumentierte. Doch keines dieser Leben hatte ihn so in den Bann gezogen, wie das von Sara Wittgenstein. Als er das erste Mal ihr Foto über den Bildschirm aufflackern sah, spürte er das erste Mal in seinem Leben ein lautes Hämmern gegen seine Brust. Er wusste vorher nicht mal, dass es dieses Gefühl gab. Natürlich hatte er schon mal davon gehört, konnte es sich jedoch nie vorstellen bis zu dem Moment, in dem er ihr Foto sah. Ihr Lächeln überstrahlte das ganze Bild. Ihr braunes Haar fiel leicht über ihre Schultern. Am Rande ihres Gesichtes befand sich ein kleiner, unauffälliger Leberfleck, den Ben neugierig studierte. Es war ein Schönheitsfleck, der sie in seinen Augen zu etwas Besonderem machte. So einen hatte er vorher noch nie zuvor gesehen, wenn auch gehört.

Er suchte alle Informationen zusammen, die er über Sara besaß, bevor er sich an seine Arbeit machte. Sara Wittgenstein starb am 3. September 2081 im Alter von neunundachtzig Jahren. An diesem Tag fand eine Sonnenfinsternis statt. Sie hinterließ keine Nachkommen oder Verwandten. Ihre größte Hinterlassenschaft waren ihre zahlreichen Fotos. Sara war den größten Teil ihres Lebens Fotografin gewesen. Sie hinterließ ihre Initialen in jedes ihrer Bilder. Es war ein Kunstwerk, jedes Bild für sich. Manche zeigten Gegenstände, andere nichts weiter als verschwommene Strukturen. Linien, dessen Farben miteinander kontrastierten. Muster, die in ein Bild verliefen. Ben erkannte, wie sie die Welt sah. Ihre Bilder zeigten ihre Sicht auf die Dinge. In ihren Bildern spiegelte sich ein Stückchen Sara wieder. In einem im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stand mit ihrer Kamera vor einem Spiegel und fotografierte sich zusammen mit ihrer Kamera. In dieser Phase des Lebens trug sie kürzere, dunkle Haare, ihre Lippen in einem tiefen, knalligen Rot geschminkt, der ihre helle Haut zur Geltung brachte. Es war eine bereits gereifte Sara. Auf dem ersten Foto strahlte ihre Jugend noch hervor, auch wenn sie sich vermutlich in den zwanziger Jahren ihres Lebens befand, zeichnete sie dort noch etwas leichtes, unbeschwertes ab. Als wäre ihre Geschichte noch nicht geschrieben. Und in ihrer Chronik ließ sich ablesen, dass der Großteil ihres Lebens tatsächlich noch nicht eingetreten war. Die junge Sara wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was für ein Leben sie erwartete. Die ältere Sara hingegen wusste es, als sie ihren Bürojob als Steuerberaterin aufgab, um sich ihren Lebenstraum zu verwirklichen: Fotografin. Sie bereiste Orte von denen Ben bis dato nicht mal wusste, dass sie existierten. Sara erreichte alles, wovon er nicht mal zu träumen wagte. Sie ging los, nur mit ihrer Kamera in der Hand, bereiste die Strände von Fidschi, die zu seinen Lebzeiten schon versunken waren. Sie stand auf Bergen in den Alpen, deren Spitzen von Schnee bedeckt waren. Schnee, der Jahrhunderte dort lag und heute längst weggeschmolzen war. In ihrer Chronik befand sich seine tiefste Sehnsucht, von der er vorher nicht mal wusste, dass er sie besaß. Er bemerkte nicht mal wie Zeit verging. Saras Fotos, die sie hinterlassen hatte, hypnotisierten ihn. Er konnte sein Blick nicht von ihr abwenden. Er kam immer wieder an ihrem ersten Bild an. Wer dieses Bild wohl machte? Wenn er es gewesen wäre, wäre dies der Moment gewesen, in dem er sich hoffnungslos in sie verliebte hätte. Denn das tat er. Er sah ihr strahlendes Lächeln. Es ließ ihn nicht mehr los. Das Klingeln seines Mikrochips brachte ihn zurück in die Gegenwart. Als er seinen Blick von dem Bildschirm abwendete, flirrte immer noch Saras Bild vor seinen Augen rum.

„Hallo?“ Ben hörte sich an, als hätte er heute zum ersten Mal die Erde betreten.

„Hi, Ben. Hier ist Nora. Du denkst doch an unsere Verabredung mit Derik im Café? Du hattest noch kein Häkchen gegeben.“ Nora, seine Arbeitskollegin und beste Freundin, fragte ihn und Derik, Bens bester Freund aus Schulzeiten, nach einem Treffen im Café. Ben dachte an Sara.

„Natürlich. Aber es kann bei mir später werden. Wartet nicht auf mich.“ Dann legte er auf, um Sara wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken. Unwillkürlich kreiste sein ganzes Sein um sie. Ihre Gravitation zog ihn in eine elliptische Bahn um sie herum. So fing alles an.


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