Das Schwierigste im Leben war nicht für andere zu leben, sondern für sich selbst. Auch Susi machte diese Erfahrung. Sie stand auf der Brücke an der Themse und schloss die Augen. Sie dachte an jene lauwarme Sommernacht vor sechs Jahre, wo sie bereits schon mal an dieser Stelle stand. Sie stand auf der anderen Seite des Geländers. Sie erinnerte sich an den Mann, der sie aufhielt. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig machte. Heute ging sie dieselbe Brücke entlang. Es war ein kühler Herbstabend. Der Mann war schon vor Jahren aus ihrem Leben verschwunden. Trotzdem konnte Susi das Gefühl nicht loslassen, nur für ihn zu leben. Sie hielt daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Irgendwie hatte es auch von ihm abgehangen. Er war ihr Grund zum weiterleben gewesen. Die Hoffnung an die sie sich klammerte. Wenn sie ihn loslassen würde, hätte sie niemanden mehr, an den sie sich festklammern könnte. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit dafür war. Ihre Selbstzweifel hatten ihre Vergangenheit durchlöchert. Sie hatte versucht die Löcher mit Hoffnung zu stopfen; die Hoffnung an ihre Liebe.
Als sie dort stand und die Augen öffnete, sah sie nicht wie damals eine todbringende Möglichkeit. Sondern nur einen dunklen Schatten ihrer Vergangenheit, der ihre Gegenwart begleitete. Sie hatte alles abgelegt. Ihre dunklen Gedanken, ihr dunkles Gemüt. Nur ihn hatte sie noch nicht abgelegt. Hätte sie die Zukunft gekannt und nicht seiner Lüge geglaubt, hätte sie sich anders entschieden? Vermutlich nicht.
Als sie dort stand und die Brücke entlang blickte, sah sie etwas. Einen Mann. Sie fing an in seine Richtung zu gehen und plötzlich erkannte sie es. Er wollte über das Geländer klettern.
„Nicht!“, schrie Susi und lief auf ihn zu. Doch je näher sie kam, desto klarer wurde das Bild. Es war der Mann, der ihr sagte, sie solle weiterleben. Sie solle nicht aufgeben. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig gemacht hatte. Dieser Mann war dabei über das Geländer zu klettern und in die Tiefe zu stürzen, in der sie vor langer Zeit auch hineinstürzen wollte.
„Bleib!“, schrie Susi, während sie weiter auf ihn zulief. Der Mann schaute in ihre Richtung. In seinen Augen blitzte ein Funkeln des Erkennens auf.
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