Das Stufentreffen

Mandy nahm Trishas Hand und zog sie mit rein. Die kleine Turnhalle war schon voll. Sie erinnerte sich an den früheren Sportunterricht hier. Volleyball war ihr Lieblingssport gewesen. Es war das einzige Mal, wo sie all ihre Klassenkameraden in den Schatten gestellt hatte. Außer die neuen Matten, hatte sich in den zwanzig Jahren seit ihrem Schulabschluss nichts verändert; im Gegenteil, es war noch immer dieselbe alte Turnhalle wie zu ihrer eigenen Schulzeit. Ein prähistorisches Gebäude der siebziger Jahre. An dieser Schule waren Zeitreisen tatsächlich möglich.

Trisha sah durch die Menge und blieb an einigen Gesichtern hängen. Die Menschen waren immer noch dieselben wie früher, nur vom Alter gezeichnet. Sie merkte kaum, wie sie unbewusst die Menge nach einem bestimmten Gesicht absuchte. Mandy zog sie weiter rein.

„Carsten, hier ist Trish. Erinnert ihr euch noch an damals, als du auf Klassenfahrt in der sechsten Klasse versehentlich in der Jungendusche warst und dich Carsten nackt gesehen hatte? Carsten, du hattest die Ehre als erster Junge Trish splitternackt begutachten zu dürfen.“ Mandy hatte sich in der Hinsicht kein Stück verändert; sie war immer schon gnadenlos direkt und hatte Trisha schon in ihrer Jugend in einige, für sie unangenehmen, Situationen gebracht. Carsten schaute leicht errötet an ihr vorbei. An seinem Ringfinger erkannte Trisha ein goldenes Aufblitzen. Sie wusste, es würde nicht der letzte Ehering sein, den sie heute sehen würde. Obwohl ihr aller Leben bis zum Schulabschluss ähnlich verlaufen war, wusste sie, dass ihr Leben danach unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie hatte nie geheiratet und hoffte in ihrem Herzen, dass sie die Frage nach dem Warum heute nicht beantworten würde müssen. Just in diesem Moment kamen Mona und ihre beiden Wackeldackel, die sie seit der Schulzeit offensichtlich behalten hatte, auf sie zu.

„Trish! Dich habe ich ja Ewigkeiten nicht gesehen! Wie schön, dass du hier bist.“ Mona streckte begrüßend ihre Arme aus. Trisha nahm sie nur widerwillig und halbherzlich an. Die Vorstellung mit Mona eine längere Unterhaltung führen zu müssen, ließ sie versteifen. Ihre beiden Wackeldackel waren glücklicherweise nicht so überschwänglich, sondern wackelten einfach nur im Einklang mit ihren Köpfen Trisha entgegen.

„Was hast du so gemacht? Erzähl mir alles!“, wandte sich Mona mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit zu ihr. Trisha wollte gerade zum Reden einer nichtssagenden Floskel ansetzen, da rief jemand von der Seite nach Mona.

„Entschuldigung. Ich bin die Mitorganisatorin dieses ganzen Ehemaligentreffens, weshalb man kaum eine ruhige Minute hier hat. Vergiss nicht, was du sagen wolltest, ich komme später wieder.“ Trisha hoffte, dass dieses wage Später nie eintreffen würde. Erleichtert wandte sie sich wieder Mandy zu. Diese war jedoch an das andere Ende der Halle verschwunden, wo sie mit ihrer ehemaligen Lehrerin redete. Trisha stand verloren in der Gegend und wusste nicht, wohin mit sich.

Genau in diesem Moment der Verlorenheit, bekam sie die Person zu Gesicht, dessen Anwesenheit sie befürchtet hatte und gleichzeitig ihr sehnlichster Wunsch war. Er war gerade in einem Gespräch vertieft, als er ihr Blick auf sich ruhen spürte und in ihre Richtung schaute. Als sein Blick sie einfing, verfiel sie in eine Schockstarre. Seine Augen starrten sie direkt an. Trishas Herz klopfte, wie es schon in der achten Klasse angefangen hatte zu Klopfen. Er war bis zu dieser Klassenfahrt nur einer von vielen gewesen, der in eine Parallelklasse ging. Doch als sie in den kalten Schnee gefallen war und er ihr in einen unbeobachteten Augenblick seine Hand gereichtet hatte, war es um sie geschehen. Sie schwärmte immer von ihm, als sie in den Pausen mehr Zeit miteinander verbrachten und er sie nach der Schule ein Stück nach Hause begleitete, bevor sich ihre Nachhausewege trennten. Es war schon eine Gewohnheit geworden mit ihm ein Stück nach Hause zu gehen, als der Tag eintraf, wo er all seinen Mut zusammennahm und ihr gestand, dass er sich in sie verliebt hatte. Trisha war daraufhin nur noch röter als sonst in seiner Gegenwart angelaufen, woraufhin er langsam ein Stück auf sie zutrat und seine Lippen auf die Ihre legte. Er war ihre ganzen ersten Male gewesen: ihr erster Kuss, ihr erster Freund, ihre erste große Liebe. Ein halbes Jahr später war er ihre erste Trennung, ihr erster Liebeskummer, ihr größter Herzschmerz geworden. Die Zeit heilte alle Wunden. Doch in dem Moment, wo sein Blick sie traf, riss ihre größte Wunde wieder auf und traf sie genau wie sein Blick, vollkommen unvorbereitet.

Alle in dieser Halle sahen älter aus, aber in diesem Moment erkannte sie die Motivation hinter einer solchen Veranstaltung. Sie alle wollten eine Zeitreise zurück in eine vergangene Zeit machen. In eine Zeit, in der die Zukunft noch weit entfernt und ein nicht greifbares Konstrukt reiner Vorstellungskraft war. In eine Zeit, in der noch alle Wege möglich schienen. Eine Gegenwartsflucht. Die Gegenwart war die weite entfernte Zukunft von damals. Als Trisha die Menschen in dem Saal ansah, sowie sich selbst, merkte sie, wie sich die Menschen in die Vergangenheit flüchten wollten, nur um nicht erkennen zu müssen, dass sie in der Gegenwart gefangen waren.

Er hörte für einen kurzen Moment auf, sie anzustarren und schaute wieder seinen Gesprächspartner an. Sie nutzte die Sekunde, um sich aus seinem Bann loszulösen. Sie ging zu der aufgestellten Theke mit dem selbst gebackenen Kuchen, welcher von der aktuellen Abschlussklasse der Schule verkauft wurde, womit sie sich ihren Abschlussball finanzierten. Sie kaufte sich ein Stück Käsekuchen und stellte sich gerade in die Ecke, als ihre Schulfreundin Emma sich zu ihr gesellte.

„Total komisch alle wiederzusehen, nicht wahr?“, fragte sie mit einem ehrlichen Lächeln.

„Irgendwie schon. Hat sich nicht viel verändert an der Schule“, stellte Trisha fest. Ihre Füße tippten immer noch leicht nervös auf dem Boden hin und her. Sie zwang sich dazu, Emma anzuschauen, obwohl ihr Unterbewusstsein, die ganze Zeit in eine andere Richtung schauen wollte.

„Mich wundert es, wie viele von den Leuten aus unserer Schulzeit geheiratet haben.“ Emma musste schon immer das Offensichtliche aussprechen. Trisha fragte sich, ob er geheiratet hatte. Sie war zu nervös gewesen, um auf seinen Ringfinger zu achten.

„Darauf habe ich gar nicht geachtet. Wer denn so?“, hakte Trisha nach. Emma zählte ein paar Namen auf, seiner war nicht darunter. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder nur noch nervöser machte.

Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der aufgebauten Bühne und ein anschließendes Quietschen des Mikrofons, wovon sie sich kurz die Ohren zuhielt. Die Technik war wohl ebenfalls die Gleiche, wie vor zwanzig Jahren.

„Meine verehrten Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich Willkommen heißen“, verkündete Mona mit ihren knallrot geschminkten Lippen ins Mikrofon.

„Ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommen sind.“ Darauf folgte eine kurze Rede über ihre ehemalige Stufe. Bis sie schließlich zu dem Teil kam, der auf der Einladung stand.

„Für heute haben wir von unserem Veranstaltungsteam deshalb etwas Besonderes überlegt. Wie Sie alle bereits aus der Einladung entnehmen konnten, kommen wir jetzt zu dem spaßigen Teil des Abends. Ich möchte mich schon mal von vornherein an unseren Techniker Hans bedanken, der heute die Karaoke Maschine bedient. Einen herzlichen Applaus für Hans.“ Hans winkte von der Seite in die Menge. Trisha klatschte brav mit. Sie wusste, dass heute Karaoke angesagt war, genauso wie sie wusste, dass sie sich heute vorgenommen hatte, die stille Beobachterin zu sein. Sie war noch nie gerne im Rampenlicht gewesen. Doch heute wünschte sie sich komplett unsichtbar zu sein.

Mona kündigte bereits die erste Freiwillige an. Trisha erkannte Jane, die mit ihren Locken und ihrer Stimmgewalt, während sie sanft auf ihrer Gitarre spielte, noch zwanzig Jahren später in ihrer Erinnerung geblieben war. Sie hörte ihrer wunderschönen Stimme zu, während Trisha die letzten Stücke ihres Kuchens aß.

Von der Seite tauchte plötzlich Mandy auf.

„Gute Nachrichten.“ Mandy grinste sie breit an. „Du bist die Nächste!“ Trisha verschluckte sich an ihrem letzten Kuchenstück, welches sie gerade runterschlucken wollte. Sie hustete ein paar Mal laut auf, woraufhin sie nur noch röter wurde.

„Bitte was?“, fragte sie, während sie nach Luft schnappte.

„Man kann die Leute, die singen sollen, vorne bei Hans eintragen. Da musste ich natürlich sofort an dich denken und unsere tolle Performanz auf Klassenfahrt. Natürlich habe ich das Lied aus deinem aktuellen Lieblingsfilm genommen. Auch wenn ich persönlich mit diesen ganzen Disneylieder nicht wirklich etwas anfangen kann. Aber ich weiß, was für ein großer Fan du bist“, erklärte ihr Mandy. Trisha stand sprachlos da, als Jane gerade ihren wohlverdienten Applaus bekam. Dann wurde Trisha auch schon auf die Bühne gerufen. Doch sie blieb regungslos stehen.

„Trish, komm auf die Bühne“, forderte sie Mona von der Bühne aus auf. Trisha schüttelte wild den Kopf.

„Nein“, sagte sie, doch es ging in dem höflichen Klatschen des Publikums unter. Mandy gab ihr einen Stups nach vorne. Mit weichen Knien ging Trisha auf die Bühne zu. Sie wollte am liebsten gar nicht weitergehen, schien aber keine andere Wahl zu haben. Ihr Blick traf ihn. Er stand etwas weiter weg, woraufhin sie zu Boden schaute, während sie die Bühne betrat.

„Freut uns, Trish. Die Bühne gehört dir“, kündigte Mona an und ließ sie alleine auf der Bühne stehen. Sie stellte sich an das Mikrofon und sah auf den Bildschirm, der am unteren Rand der Bühne platziert wurde, um den Karaoke Text anzuzeigen. Als sie den Titel sah, wusste sie welches Lied Mandy gemeint hatte. Die ersten Töne von Into the Unknown erklangen. Das Lied einer Eiskönigin, die den Ruf einer Stimme hört, diesen jedoch verweigert, weil sie nicht aus ihrer gewohnten Welt ausbrechen möchte bis sie schließlich den Ruf dieser Stimme folgt.

Bei der ersten Strophe war Trisha noch zurückhaltend, doch als der rufende Refrain auf dem Bildschirm aufleuchtete, konnte sie nicht anders. Eine Stimme aus ihrem Herzen fing laut an zu singen. Sie fing an, über die Bühne zu tanzen. Sie sah durch die Turnhalle, die Gesichter und ihr wurde klar, dass die meisten dieser Menschen ihrem Ruf nicht gefolgt waren. Sie wusste es, weil sie selbst dazu gehörte.

Während sie sang, erinnerte sie sich an alles. Wie sie an dieser Schule war und ihr Leben noch ein Traum voller Abenteuer und Reisen war, die sie alle noch erleben würde. Zwanzig Jahre später war der Traum entzaubert worden. Sie hatte nach dem Studium einen Beruf in einer kleinen Tageszeitung, die kaum noch Leser hatte, angenommen. Damals sagte sie sich, es sei nur ein vorläufiger Zwischenstopp für ihre zukünftige Karriereleiter. Heute arbeitete sie immer noch dort. Sie hatte sich nie ins Unbekannte getraut, sondern war lieber ihre gewohnten Bahnen geschwommen. Sie hatte nicht ihren Ängsten getrotzt, sowie die mutige Eiskönigin, die von ihrem Aufbruch sang. Doch in dem Moment, als sie von ganzem Herzen sang und dazu tanzte, während eine ganze Menschenmenge sie anstarrte, traf es sie wie ein Blitz. Sie hatte nichts zu verlieren. Alle in diesem Raum dachten, es sei zu spät. Aber es würde nie zu spät sein. Und als sie die letzte Zeile sang und sich dabei fragte, wie sie dem Ruf ins Unbekannte folgen konnte, kannte sie die Antwort.

Als der Applaus ertönte, steckte sie das Mikrofon zurück in den Halter und lief von der Bühne. Sie sah bereits von dort aus die Türschwelle, die sie überschreiten musste, um auszubrechen. Alles um sie herum, verschwand aus ihrer Wahrnehmung und sie lief zu der Türe, hinaus auf dem Parkplatz, wo ihr kleiner silberner Volvo stand, der nur darauf wartete, sie in ihr Abenteuer zu fahren. Sie ging direkt darauf zu und setzte sich rein. Für einen Augenblick musste sie ihre Gedanken sortieren, um zu begreifen, was sie hier gerade tat. Wo wollte sie hin? Doch sie wusste, dass sie die Antwort erst am Ende ihres Weges erkennen würde. Sie würde sich vom Wind dorthin tragen lassen.

Der Zündschlüssel steckte bereits und sie startete gerade den Motor, als sie ein Klopfen von der rechten Seite hörte. Ein Gesicht tauchte hinter der Scheibe des Beifahrersitzes auf. Dort stand er. Sie ließ mit zittriger Hand das Fenster runter.

„Ich wollte mit dir reden“, verkündete er. Als er so dort stand, kein blitzendes Gold an seinem Ringfinger, wusste sie, dass dies kein Zufall sein konnte. Alles fiel an diesem Tag zusammen.

„Steig ein“, verkündetet sie.

„Was?“ Er wirkte irritiert.

„Ich sagte, steig ein“, wiederholte sie ruhig und schaute ihn dabei nicht an.

„Du fährst aber nicht mit mir weg“, sagte er halb im Scherz, doch in seinem Gesicht war ein besorgter Ausdruck zu erkennen.

„Doch, genau das hatte ich vor.“ Ihre Stimme ließ keinen Platz für Ironie. Diesmal nicht.

„Hör zu, ich weiß nicht, was du vorhast oder wo du mit mir hinwillst, aber ich kann hier nicht weg“, erklärte er, während er immer noch vor dem Fenster stand.

„Warum nicht?“ Sie wusste, dass sie ihren Ruf folgen musste, doch sie wusste auch, dass ihre Reise einen Gefährten brauchte. Und dieser Gefährte hatte soeben gegen ihre Scheibe geklopft.

„Naja, ich bin mir gerade nicht sicher, wo du hinwillst. Ich habe eine Arbeit zu der ich morgen früh erscheinen muss und wenn das, was du vorhast, länger dauert, könnte es etwas spät werden.“

„Liebst du deine Arbeit?“ Die Frage brachte ihn sichtlich durcheinander.

„Wie meinst du das?“

„So wie ich es sage.“ Sie starrte immer noch geradeaus. Während des ganzen Gesprächs, hatte sie ihn kein einziges Mal angeschaut.

„Naja, es ist halt ein Job wie jeder andere. Was spielt das für eine Rolle?“ Jetzt erst blickte sie ihm direkt in die Augen.

„Dann hast du auch nichts zu verlieren. Und jetzt steig ein!“, forderte sie ihn ein letztes Mal auf. Er zögerte kurz, stieg aber schließlich ein.

Dann ließ sie den Motor aufheulen und fuhr los. Dem Unbekannten entgegen.


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