Gibt es etwas Schöneres wie Lebkuchen und Zuckerstangen an Weihnachten? Betty mochte beides nicht. Diese ganzen Sachen sprachen sie überhaupt nicht, während sie an den Schaufensterläden vorbeiging. Sie brauchte dringend ein paar neue Winterpullover. Das Problem dabei im Sommer Winterklamotten auszusortieren war, dass man bis zum Winter wieder vergessen hat neue Kleidung einzukaufen. Und so trug sie im November drei Schichten Klamotten plus Winterjacke, um nicht ganz so sehr zu frieren. Als sie den Klamottenladen betrat, ging sie direkt in die Abteilung mit flauschigen Pullovern. So unterschiedlich Nora und Betty auch waren, diese Gemeinsamkeit hatten sie: im Laden wussten sie beide unnötige Ablenkungen zu vermeiden.
Sie suchte sich fünf Pullover in ihrer Größe aus, wobei sie neben einen Längeren auch in einer Nummer kleiner mitnahm. Einer davon hatten ein Rudolf-das-Rentier-mit-der-roten-Nase-Gesicht mit einer rot, hängenden Bommelnase drauf. Nichts für Bettys Geschmack, doch ihre Mutter würde es zu Weihnachten lieben. Mit ihrem Arm vollgepackt ging sie schnurstracks in die Umkleidekabine und nahm sich die erste, offene Kabine, die sich ihr anbot. Überall lagen noch Klamotten in der Kabine verstreut herum. Menschen, die ihren Kram nie wegräumen, dachte Betty genervt und hing ihre Sachen auf den Ständer. Sie fing mit den Rudolfpullover an, dann würde sie das Schlimmste hinter sich haben. Sie zog ihre drei Schichten aus und schließlich den Pullover drüber.
„Seltsam“, hörte sie eine tiefe Stimme vor ihrem Kabinenvorhang sagen, während sie den Pullover drüberzog. Sie war gerade fertig und fing an sich im Spiegel zu betrachten, als der Vorhang ruckartig aufgezogen wurde. Betty zuckte erschrocken zusammen. Sie drehte sich um und sah in ebenso erschrockene blaue Augen.
„Tut mir leid, ich wollte nicht…“, druckste er rum und drehte sich sofort um. Doch Betty hatte genau gesehen, wie er zuvor noch einen kurzen Blick auf ihren hässlichen Rudolfpulli erhaschte.
„Das ist eigentlich meine Kabine“, erklärte er, während er zur Wand schaute. Das erklärte auch die Hose, die mitten auf dem Boden der Kabine lag.
„Oh, das wusste ich nicht“, entschuldigte sich Betty.
„Keine Problem. Ich wollte nur kurz meine persönlichen Modeberaterin um Rat fragen und war deshalb nicht drin“, erläuterte er.
„Du musst mir nichts erklären. Ich gehe sofort in eine andere Kabine.“ Fast schon panisch packte Betty ihre ganzen Sachen aus der Kabine zusammen. Dabei versuchte sie mit ihren restlichen Pullovern ihren angezogen Rudolfpullover zu verdecken. Erst als sie aus der Kabine trat, traute der eigentliche Kabinenbesetzer sich umzudrehen. Betty erblickte nicht nur seine stechenden blauen Augen, sondern auch seine schönen, leicht nach hinten gegelten braunen Haaren. Kurz blieb Betty der Atem stehen.
„Also du solltest das Hemd wirklich mitnehmen, Calvin.“ Betty drehte sich zu der jungen Frauenstimme um und sah eine Frau, die ihm von seinem äußerlichen Erscheinungsbild ebenbürtig erschien. Anscheinend nicht nur seine Modeberaterin, dachte Betty sofort.
„Entschuldigung, nochmal“, sagte Betty mit geröteten Wangen und verschwand in der Kabine nebenan. Sie zog schnell den Rudolfpullover aus und verfrachtete das Ding auf die auszusortierende Seite.
Beim restlichen Anprobieren ließ sie sich extra viel Zeit. Beim dritten Pullover, hörte sie noch die Stimmen der beiden, die sich von den Kabinen entfernten. Erleichtert atmete Betty auf.
Insgesamt nahm sie drei Pullover mit und hing zwei Stück wieder zurück. An der Kasse begegnete sie den Beiden zu Bettys Erleichterung nicht wieder. Es waren noch 40 Tage bis Weihnachten.
© thewomanandonly