Sie grub vorsichtig die Erde in den Topf. Dort wartete
bereits die Wurzel ihrer neuen Staude eingepflanzt zu werden. Mit ihren Händen,
die von dicken Garten-Handschuhen überzogen sind, grub sie nach und nach die Erde
aus dem Sack in den Topf. Nachdem sie fertig war, betrachtete sie ihr Werk,
welches auf dem Stadtbalkon eines Hochhauses in der Stadt, seinen Platz
gefunden hatte. Es war ihr erstes grünes Werk auf dem Balkon. Als sie vor zwei Monaten
in die Großstadt gezogen war, hatte sie noch keine Idee, wie sie den kleinen,
beschaulichen Balkon, dessen Panorama einzig und allein aus weiteren höheren
Häusern bestand, gestalten würde. Nun hatte sie den ersten Schritt getan, in
dem sie ihre erste Pflanze dorthin gepflanzt hatte. Zufrieden zog sie sich die
Handschuhe aus und legte sie über das Balkon-Geländer. Plötzlich hörte sie es
an der Türe klingeln. Sie ging rein und war nur wenig überrascht, als sie die
Stimme ihrer Mutter durch die Gegensprechanlage hörte. Seit sie vor zwei
Monaten hierhergezogen war, kam ihre Mutter mindestens einmal die Woche vorbei,
um zu schauen, ob alles in Ordnung bei ihr war. So drückte sie ihrer Mutter die
untere Haustür auf, damit sie raufkommen konnte.
Zwei Monate später pflanzte sie ihre zweite Pflanze auf dem Balkon ein. Diesmal mit ihren bloßen Händen. Die Handschuhe hatte sie damals nach dem Besuch von ihrer Mutter auf dem Balkon vergessen gehabt. Sie waren durch den Regen runtergefallen und sie hatte sie unten nicht mehr wiedergefunden. Als wären sie nicht runtergefallen, sondern als hätte der Wind sie fortgeweht. Ihre Hände gruben nun fest die Erde um und sie versuchte mit dem Hauen auf die Erde, diese stabil werden zu lassen, damit ihre neue Pflanze bloß nicht den Halt verliert. Mit ihren Tränen goss sie die Pflanze. Mit ihren erdigen Händen versuchte sie diese aus ihrem Gesicht wegzuwischen. Sie merkte gar nicht, wie Erde in ihrem Gesicht kleben blieb. Als sie fertig war, ließ sie den Topf mit der Pflanze zusammen mit dem Sack voll Erde einfach auf den Balkon stehen. Es erinnerte sie zu sehr an ihre Mutter und ihren letzten Besuch von ihr. Wie selbstverständlich sie es damals genommen hatte. Hätte sie gewusst, dass sie eine Woche später an einem Herzinfarkt sterben würde, hätte sie sie einen Moment länger in den Arm genommen. Sie hätte nur einen Moment länger mit ihr Zeit verbringen wollen. Nur ein Moment länger die Grübchen um ihren Mund und die kleinen Lachfältchen an ihren Augen beobachtet und eingeprägt. Doch der Moment war verstrichen, bevor sie ihn bewusst wahrnehmen und sich bewusst einprägen konnte. Nun stand die zweite Pflanze auf ihrem Balkon.
Der Winter war gnadenlos. Keiner der beiden Pflanzen
schien dort in der eisigen Kälte überlebt zu haben. Sie starrte auf den Balkon
in die graue Leere des Winters, der durch die toten Pflanzen untermalt wurde.
Der Frühling vollbrachte Wunder. Ihre erste Pflanze erwachte
aus ihrem Winterschlaf. Und mit ihr die Hoffnung ihr Leben weiterzuleben. Sie
plante einen Wochenendtrip in das ehemalige Ferienhaus, wo sie früher immer mit
ihrer Mutter Urlaub gemacht hatte. Hoffentlich würde die Pflanze ihre kurze
Abwesenheit überleben.
Sie kam wieder zurück von dem Ferienhaus am Meer, als sie es sah. Sie betrat den Balkon und der Anblick machte sie für einen Moment sprachlos. Die erste Pflanze hatte nicht nur überlebt, die zweite mit ihren bloßen Händen eingetopfte Pflanze sprieß gen Himmel. Sie war aus ihren Tränen der Vergangenheit zu neuer Blüte erwacht. Unwillkürlich musste sie lächeln. Aus der Trauer eines Verlustes entstand früher oder später immer neues Leben. Und sie wusste nun, das hier war ihr neues Leben.
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