Der Geist der vergangenen Weihnacht – Eine Kurzgeschichte

Obwohl Olivia starb, spürte sie keine Schmerzen. Es ging so schnell, dass ihre Nervenbahnen nicht mal die Möglichkeit hatten, ihre Verletzungen an ihr Schmerzzentrum weiterzuleiten. Sie konnte an nichts mehr denken. Kein letzter Gedanke, der ihr durch den Kopf schoss. Die direkte Schwärze umfasste und verschlang sie. Die Flammen des in Sekunden explodierten Autos flackerten hingegen lichterloh in der Nacht. Das Zeichen für Leben bedeutete ihren Tod.

Doch die eingetretene Schwärze war nicht ihr Ende. Wer war dieses Wesen, welches sie zurückholte?

„Erkennst du mich nicht?“ Olivia musste zweimal hinschauen. Sie war in einem Raum, der einer Nicht-Realität glich.

„Wo bin ich?“, fragte sie orientierungslos.

„Falsche Frage. Die Frage ist, wie du bist.“ Olivia schaute verwirrt das Lichtwesen in der Mitte des Raumes an, während es immer mehr Gestalt annahm.

„Tod oder lebendig?“ Da durchzuckte es Olivia wie ein Blitz. Sie versuchte an ihren Körper herunterzusehen, sah jedoch nur weißes Licht.

„Ich bin tot?“

„Weder das eine noch das andere. Du hast bei unserem Casting gewonnen.“

„Casting?“ Olivia verstand nichts mehr an dieser Situation. Sie fühlte sich leicht und doch grundlegend haltlos.

„Sozusagen. Du wurdest als Geist der vergangenen Weihnacht ausgesucht“, erklärte das warme Lichtwesen. Wer…

„Für wen?“

„Da komme ich ins Spiel, schätze ich.“ Und da erkannte sie die Gestalt. Die Seele ihres Exmannes. Sie hatte ihn nicht wiedererkannt. Sein Licht war so rein und klar. Nicht wie die Dunkelheit, die ihn in seinem Leben eingenommen hatte. Er war in ihrer Ehe ihr persönlicher Schatten gewesen. Nach ihrer Scheidung hatte sie ihn nur einmal wiedergesehen. Ihre gemeinsame Tochter hingegen kein einziges Mal mehr. Sie war ein Engel, den er in den Abgrund gerissen hatte.

„Marianne braucht uns.“ Ihre Tochter lebte. Er war hingegen schon vor Jahren gestorben. Alkoholvergiftung.

„Du musst ihr etwas aus der Vergangenheit zeigen. Eine Erinnerung.“

„Was für eine Erinnerung?“

„Du wirst es wissen, wenn es soweit ist. Für das erste reicht es, wenn du deine Rolle in dieser Nacht kennst.“ Die Klarheit war von einem verschmierten Schimmer umgeben.

„Und welche Rolle spielst du?“

„Ich bin der Bote, der Ankündiger, die gequälte Seele, die ihr die Geister voraussagen wird.“ Dann verschwand Olivia in der leeren Dunkelheit. Ein Nichts.

Licht. Sie erkannte das Gesicht ihrer einzigen Tochter. Sie ging aus dem Bürogebäude heraus, wo sie schon seit Jahren arbeitete. Sie beobachtete sie aus der Vogelperspektive. Mary. Ihr Spitzname. Sie wisch sich leicht und kurz über ihre Nase. Olivia wusste sofort, was das bedeutete. Sie hatte ihre Tochter schon zu oft High gesehen. Olivia blieb vor ihrer Tochter stehen und sah sie direkt an. Mary hingegen starrte vor sich auf den Boden, als sei sie kein Teil ihrer Umgebung.

„Mary, mein Liebes“, sprach Olivia zu ihr. Mary schaute geschockt auf und starrte direkt in ihre Augen. Sie blinzelte zweimal. Dann ging sie weiter, ohne ihre Mutter aus den Augen zu lassen.

„Warte!“ Olivia versuchte ihre Tochter aufzuhalten, doch sie ging einfach durch sie hindurch. Für einen Moment fühlte sich Olivia wieder haltlos. Doch sie schloss die Augen. Sie wusste, welche Erinnerung sie ihrer Tochter zeigen musste.

Im nächsten Moment standen die beiden in ihrem früheren Zuhause.

„Das ist nicht echt“, wehrte Mary ab.

„Stimmt. Es ist nur eine Erinnerung“, stimmte Olivia ihr zu.  Die kleine Mary lief fröhlich an ihnen vorbei.

„Mami! Papi!“, lief die kleine sechsjährige Mary in das Wohnzimmer ihrer Eltern. Ihre Mutter lag bewusstlos auf dem Boden. Ihr Vater stand mit blutender Hand und sturzbetrunken über ihr.

„Deine Mutter ist eine blöde Schlampe. Vergiss das nie! Eine widerliche, blöde Schlampe“, schrie Marys Vater in den Raum. An diesem Tag wäre Olivia bereits das erste Mal beinahe gestorben. Die kleine Mary starrte ihre blutüberströmte Mutter an, die reglos am Boden lag.

„Mami!“, fing Mary an zu weinen.

„Eine widerliche, blöde Schlampe“, wiederholte ihr Vater, während er sich mit der Wodkaflasche auf das Sofa setzte und daran trank. Mary hingegen rannte zum Telefon. Ihre Mutter hatte ihr bereits beigebracht, welche Nummer man wählen sollte, wenn jemand verletzt war. Sie wählte den Notruf. Es dauerte keine zehn Minuten bis der Krankenwagen da war. Als der Rettungsdienst auf den aggressiven Mann traf, riefen sie die Polizei. Olivia hatte ihren Exmann danach nur ein weiteres Mal gesehen: vor Gericht. Mary hingegen ihren Vater nie wieder.

Ihre Erinnerung wechselte.

Die vierzehnjährige Mary schrie ihre Mutter an.

„Es geht dich einen Scheiß an, ob und mit wem ich Alkohol trinke, Drogen nehme oder sonst was mache. Du bist eine widerliche, blöde Schlampe!“ Dann rannte Mary raus. Sie würde erst eine Woche später wieder Zuhause auftauchen.

Als die erwachsene Mary ihr jugendliches Ich sah und wie dieses ihre Mutter so anschrie, wie ihr Vater es getan hatte, fing Mary an zu weinen.

„Das wollte ich nicht. Es tut mir so leid, Mami. Ich liebe dich doch!“ Ihre Tränen hörten nicht mehr auf. Olivia nahm ihre Tochter in den Arm, auch wenn Mary es nicht spüren konnte.

„Ich weiß. Und ich liebe dich“, erklärte Olivia ihrer Tochter. Olivia lächelte sie an. Ihre Tochter verschwamm immer mehr vor ihren Augen und das Nichts verschlang Olivia endgültig.

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