5. Brief an die Liebe meines Lebens

Liebe meines Lebens,

ich warte auf dich. Ich möchte mit dir all die kleinen, scheinbar belanglosen Momente teilen, deren Süße dem Leben die Bedeutung geben, die ihm zusteht. Möchte dir all die Gedanken teilen, die ich über die schönen Dinge dieser Welt denke. Wenn ich durch den Schnee stapfe, liebe ich die gedämpfte Stille, das vorsichtige Glitzern, welches in meine Richtung funkelt, die sanften Flocken, die meine Nasenspitze kitzeln und sich in meinen Haaren verfangen. Wie gerne würde ich dir davon erzählen, wenn ich durch den stillen Wald gehe und neben meinen Füßen, auch meine Gedanken neue, verschlungene Pfade gehen. Ich würde dich gerne hören lassen, wie schön ein melodisches Orchesterstück sein kann, wenn es einen in seine eigene Geschichte gefangen nimmt und mitreißt. Es sind all diese kleinen Dinge, die ich dir gerne zeigen würde und ich würde dich fragen, ob du sie auch so siehst. Und ich würde dir gespannt zuhören, welche Dinge dir in dieser Welt auffallen. Welche kleinen, besonderen Sachen du besonders schön findest und wie du versuchst die Schönheit in deine Worte einzufangen.

Ich warte auf den Anfang einer Geschichte. Vielleicht stehe ich schon am Anfang, habe es aber noch gar nicht bemerkt. Die Schwelle, wo eine Geschichte zu Ende ist, während die andere gerade beginnt. Jede Geschichte fängt meist mit getrennten Wegen an, die sich schnell kreuzen. Und ich wünsche mir, dass ich endlich an dem Anfang der Geschichte stehe, an dem ich immer sein wollte. Die Geschichte, dessen Ende mich mit Glück erfüllt. Ich musste mich vor dieser Geschichte erst selbst verlieren, finden und lieben, um bereit für dich zu sein. Und jetzt warte ich. Gebe mich meiner Zeit hin und genieße sie, sehe die Dinge und nehme sie bewusst wahr, damit ich dir eines Tages von diesen Dingen einmal erzählen kann.

In Liebe

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Zwischen Liebe und Zeit – 1. Teil

Ben hatte als Historiker des zweiundzwanzigsten Jahrhunderts schon viele Leben rekonstruiert. Leben von großen Politikern, die zum Zeitpunkt ihres Karrierehochs das Weltgeschehen aktiv mitgestalteten. Leben von Künstlern, die mit ihren Werken ganze Massen begeisterten. Leben von unscheinbaren Leuten, deren Leben er lückenlos dokumentierte. Doch keines dieser Leben hatte ihn so in den Bann gezogen, wie das von Sara Wittgenstein. Als er das erste Mal ihr Foto über den Bildschirm aufflackern sah, spürte er das erste Mal in seinem Leben ein lautes Hämmern gegen seine Brust. Er wusste vorher nicht mal, dass es dieses Gefühl gab. Natürlich hatte er schon mal davon gehört, konnte es sich jedoch nie vorstellen bis zu dem Moment, in dem er ihr Foto sah. Ihr Lächeln überstrahlte das ganze Bild. Ihr braunes Haar fiel leicht über ihre Schultern. Am Rande ihres Gesichtes befand sich ein kleiner, unauffälliger Leberfleck, den Ben neugierig studierte. Es war ein Schönheitsfleck, der sie in seinen Augen zu etwas Besonderem machte. So einen hatte er vorher noch nie zuvor gesehen, wenn auch gehört.

Er suchte alle Informationen zusammen, die er über Sara besaß, bevor er sich an seine Arbeit machte. Sara Wittgenstein starb am 3. September 2081 im Alter von neunundachtzig Jahren. An diesem Tag fand eine Sonnenfinsternis statt. Sie hinterließ keine Nachkommen oder Verwandten. Ihre größte Hinterlassenschaft waren ihre zahlreichen Fotos. Sara war den größten Teil ihres Lebens Fotografin gewesen. Sie hinterließ ihre Initialen in jedes ihrer Bilder. Es war ein Kunstwerk, jedes Bild für sich. Manche zeigten Gegenstände, andere nichts weiter als verschwommene Strukturen. Linien, dessen Farben miteinander kontrastierten. Muster, die in ein Bild verliefen. Ben erkannte, wie sie die Welt sah. Ihre Bilder zeigten ihre Sicht auf die Dinge. In ihren Bildern spiegelte sich ein Stückchen Sara wieder. In einem im wahrsten Sinne des Wortes. Sie stand mit ihrer Kamera vor einem Spiegel und fotografierte sich zusammen mit ihrer Kamera. In dieser Phase des Lebens trug sie kürzere, dunkle Haare, ihre Lippen in einem tiefen, knalligen Rot geschminkt, der ihre helle Haut zur Geltung brachte. Es war eine bereits gereifte Sara. Auf dem ersten Foto strahlte ihre Jugend noch hervor, auch wenn sie sich vermutlich in den zwanziger Jahren ihres Lebens befand, zeichnete sie dort noch etwas leichtes, unbeschwertes ab. Als wäre ihre Geschichte noch nicht geschrieben. Und in ihrer Chronik ließ sich ablesen, dass der Großteil ihres Lebens tatsächlich noch nicht eingetreten war. Die junge Sara wusste zu diesem Zeitpunkt nicht, was für ein Leben sie erwartete. Die ältere Sara hingegen wusste es, als sie ihren Bürojob als Steuerberaterin aufgab, um sich ihren Lebenstraum zu verwirklichen: Fotografin. Sie bereiste Orte von denen Ben bis dato nicht mal wusste, dass sie existierten. Sara erreichte alles, wovon er nicht mal zu träumen wagte. Sie ging los, nur mit ihrer Kamera in der Hand, bereiste die Strände von Fidschi, die zu seinen Lebzeiten schon versunken waren. Sie stand auf Bergen in den Alpen, deren Spitzen von Schnee bedeckt waren. Schnee, der Jahrhunderte dort lag und heute längst weggeschmolzen war. In ihrer Chronik befand sich seine tiefste Sehnsucht, von der er vorher nicht mal wusste, dass er sie besaß. Er bemerkte nicht mal wie Zeit verging. Saras Fotos, die sie hinterlassen hatte, hypnotisierten ihn. Er konnte sein Blick nicht von ihr abwenden. Er kam immer wieder an ihrem ersten Bild an. Wer dieses Bild wohl machte? Wenn er es gewesen wäre, wäre dies der Moment gewesen, in dem er sich hoffnungslos in sie verliebte hätte. Denn das tat er. Er sah ihr strahlendes Lächeln. Es ließ ihn nicht mehr los. Das Klingeln seines Mikrochips brachte ihn zurück in die Gegenwart. Als er seinen Blick von dem Bildschirm abwendete, flirrte immer noch Saras Bild vor seinen Augen rum.

„Hallo?“ Ben hörte sich an, als hätte er heute zum ersten Mal die Erde betreten.

„Hi, Ben. Hier ist Nora. Du denkst doch an unsere Verabredung mit Derik im Café? Du hattest noch kein Häkchen gegeben.“ Nora, seine Arbeitskollegin und beste Freundin, fragte ihn und Derik, Bens bester Freund aus Schulzeiten, nach einem Treffen im Café. Ben dachte an Sara.

„Natürlich. Aber es kann bei mir später werden. Wartet nicht auf mich.“ Dann legte er auf, um Sara wieder seine Aufmerksamkeit zu schenken. Unwillkürlich kreiste sein ganzes Sein um sie. Ihre Gravitation zog ihn in eine elliptische Bahn um sie herum. So fing alles an.


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Wonderful Life – Eine Kurzgeschichte

Das Schwierigste im Leben war nicht für andere zu leben, sondern für sich selbst. Auch Susi machte diese Erfahrung. Sie stand auf der Brücke an der Themse und schloss die Augen. Sie dachte an jene lauwarme Sommernacht vor sechs Jahre, wo sie bereits schon mal an dieser Stelle stand. Sie stand auf der anderen Seite des Geländers. Sie erinnerte sich an den Mann, der sie aufhielt. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig machte. Heute ging sie dieselbe Brücke entlang. Es war ein kühler Herbstabend. Der Mann war schon vor Jahren aus ihrem Leben verschwunden. Trotzdem konnte Susi das Gefühl nicht loslassen, nur für ihn zu leben. Sie hielt daran fest, als hinge ihr Leben davon ab. Irgendwie hatte es auch von ihm abgehangen. Er war ihr Grund zum weiterleben gewesen. Die Hoffnung an die sie sich klammerte. Wenn sie ihn loslassen würde, hätte sie niemanden mehr, an den sie sich festklammern könnte. Sie wusste nicht, ob sie schon bereit dafür war. Ihre Selbstzweifel hatten ihre Vergangenheit durchlöchert. Sie hatte versucht die Löcher mit Hoffnung zu stopfen; die Hoffnung an ihre Liebe.

Als sie dort stand und die Augen öffnete, sah sie nicht wie damals eine todbringende Möglichkeit. Sondern nur einen dunklen Schatten ihrer Vergangenheit, der ihre Gegenwart begleitete. Sie hatte alles abgelegt. Ihre dunklen Gedanken, ihr dunkles Gemüt. Nur ihn hatte sie noch nicht abgelegt. Hätte sie die Zukunft gekannt und nicht seiner Lüge geglaubt, hätte sie sich anders entschieden? Vermutlich nicht.

Als sie dort stand und die Brücke entlang blickte, sah sie etwas. Einen Mann. Sie fing an in seine Richtung zu gehen und plötzlich erkannte sie es. Er wollte über das Geländer klettern.

„Nicht!“, schrie Susi und lief auf ihn zu. Doch je näher sie kam, desto klarer wurde das Bild. Es war der Mann, der ihr sagte, sie solle weiterleben. Sie solle nicht aufgeben. Der Mann von dem Susi ihr Leben abhängig gemacht hatte. Dieser Mann war dabei über das Geländer zu klettern und in die Tiefe zu stürzen, in der sie vor langer Zeit auch hineinstürzen wollte.

„Bleib!“, schrie Susi, während sie weiter auf ihn zulief. Der Mann schaute in ihre Richtung. In seinen Augen blitzte ein Funkeln des Erkennens auf.

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