Das Stufentreffen

Mandy nahm Trishas Hand und zog sie mit rein. Die kleine Turnhalle war schon voll. Sie erinnerte sich an den früheren Sportunterricht hier. Volleyball war ihr Lieblingssport gewesen. Es war das einzige Mal, wo sie all ihre Klassenkameraden in den Schatten gestellt hatte. Außer die neuen Matten, hatte sich in den zwanzig Jahren seit ihrem Schulabschluss nichts verändert; im Gegenteil, es war noch immer dieselbe alte Turnhalle wie zu ihrer eigenen Schulzeit. Ein prähistorisches Gebäude der siebziger Jahre. An dieser Schule waren Zeitreisen tatsächlich möglich.

Trisha sah durch die Menge und blieb an einigen Gesichtern hängen. Die Menschen waren immer noch dieselben wie früher, nur vom Alter gezeichnet. Sie merkte kaum, wie sie unbewusst die Menge nach einem bestimmten Gesicht absuchte. Mandy zog sie weiter rein.

„Carsten, hier ist Trish. Erinnert ihr euch noch an damals, als du auf Klassenfahrt in der sechsten Klasse versehentlich in der Jungendusche warst und dich Carsten nackt gesehen hatte? Carsten, du hattest die Ehre als erster Junge Trish splitternackt begutachten zu dürfen.“ Mandy hatte sich in der Hinsicht kein Stück verändert; sie war immer schon gnadenlos direkt und hatte Trisha schon in ihrer Jugend in einige, für sie unangenehmen, Situationen gebracht. Carsten schaute leicht errötet an ihr vorbei. An seinem Ringfinger erkannte Trisha ein goldenes Aufblitzen. Sie wusste, es würde nicht der letzte Ehering sein, den sie heute sehen würde. Obwohl ihr aller Leben bis zum Schulabschluss ähnlich verlaufen war, wusste sie, dass ihr Leben danach unterschiedlicher nicht hätte sein können. Sie hatte nie geheiratet und hoffte in ihrem Herzen, dass sie die Frage nach dem Warum heute nicht beantworten würde müssen. Just in diesem Moment kamen Mona und ihre beiden Wackeldackel, die sie seit der Schulzeit offensichtlich behalten hatte, auf sie zu.

„Trish! Dich habe ich ja Ewigkeiten nicht gesehen! Wie schön, dass du hier bist.“ Mona streckte begrüßend ihre Arme aus. Trisha nahm sie nur widerwillig und halbherzlich an. Die Vorstellung mit Mona eine längere Unterhaltung führen zu müssen, ließ sie versteifen. Ihre beiden Wackeldackel waren glücklicherweise nicht so überschwänglich, sondern wackelten einfach nur im Einklang mit ihren Köpfen Trisha entgegen.

„Was hast du so gemacht? Erzähl mir alles!“, wandte sich Mona mit einer aufgesetzten Fröhlichkeit zu ihr. Trisha wollte gerade zum Reden einer nichtssagenden Floskel ansetzen, da rief jemand von der Seite nach Mona.

„Entschuldigung. Ich bin die Mitorganisatorin dieses ganzen Ehemaligentreffens, weshalb man kaum eine ruhige Minute hier hat. Vergiss nicht, was du sagen wolltest, ich komme später wieder.“ Trisha hoffte, dass dieses wage Später nie eintreffen würde. Erleichtert wandte sie sich wieder Mandy zu. Diese war jedoch an das andere Ende der Halle verschwunden, wo sie mit ihrer ehemaligen Lehrerin redete. Trisha stand verloren in der Gegend und wusste nicht, wohin mit sich.

Genau in diesem Moment der Verlorenheit, bekam sie die Person zu Gesicht, dessen Anwesenheit sie befürchtet hatte und gleichzeitig ihr sehnlichster Wunsch war. Er war gerade in einem Gespräch vertieft, als er ihr Blick auf sich ruhen spürte und in ihre Richtung schaute. Als sein Blick sie einfing, verfiel sie in eine Schockstarre. Seine Augen starrten sie direkt an. Trishas Herz klopfte, wie es schon in der achten Klasse angefangen hatte zu Klopfen. Er war bis zu dieser Klassenfahrt nur einer von vielen gewesen, der in eine Parallelklasse ging. Doch als sie in den kalten Schnee gefallen war und er ihr in einen unbeobachteten Augenblick seine Hand gereichtet hatte, war es um sie geschehen. Sie schwärmte immer von ihm, als sie in den Pausen mehr Zeit miteinander verbrachten und er sie nach der Schule ein Stück nach Hause begleitete, bevor sich ihre Nachhausewege trennten. Es war schon eine Gewohnheit geworden mit ihm ein Stück nach Hause zu gehen, als der Tag eintraf, wo er all seinen Mut zusammennahm und ihr gestand, dass er sich in sie verliebt hatte. Trisha war daraufhin nur noch röter als sonst in seiner Gegenwart angelaufen, woraufhin er langsam ein Stück auf sie zutrat und seine Lippen auf die Ihre legte. Er war ihre ganzen ersten Male gewesen: ihr erster Kuss, ihr erster Freund, ihre erste große Liebe. Ein halbes Jahr später war er ihre erste Trennung, ihr erster Liebeskummer, ihr größter Herzschmerz geworden. Die Zeit heilte alle Wunden. Doch in dem Moment, wo sein Blick sie traf, riss ihre größte Wunde wieder auf und traf sie genau wie sein Blick, vollkommen unvorbereitet.

Alle in dieser Halle sahen älter aus, aber in diesem Moment erkannte sie die Motivation hinter einer solchen Veranstaltung. Sie alle wollten eine Zeitreise zurück in eine vergangene Zeit machen. In eine Zeit, in der die Zukunft noch weit entfernt und ein nicht greifbares Konstrukt reiner Vorstellungskraft war. In eine Zeit, in der noch alle Wege möglich schienen. Eine Gegenwartsflucht. Die Gegenwart war die weite entfernte Zukunft von damals. Als Trisha die Menschen in dem Saal ansah, sowie sich selbst, merkte sie, wie sich die Menschen in die Vergangenheit flüchten wollten, nur um nicht erkennen zu müssen, dass sie in der Gegenwart gefangen waren.

Er hörte für einen kurzen Moment auf, sie anzustarren und schaute wieder seinen Gesprächspartner an. Sie nutzte die Sekunde, um sich aus seinem Bann loszulösen. Sie ging zu der aufgestellten Theke mit dem selbst gebackenen Kuchen, welcher von der aktuellen Abschlussklasse der Schule verkauft wurde, womit sie sich ihren Abschlussball finanzierten. Sie kaufte sich ein Stück Käsekuchen und stellte sich gerade in die Ecke, als ihre Schulfreundin Emma sich zu ihr gesellte.

„Total komisch alle wiederzusehen, nicht wahr?“, fragte sie mit einem ehrlichen Lächeln.

„Irgendwie schon. Hat sich nicht viel verändert an der Schule“, stellte Trisha fest. Ihre Füße tippten immer noch leicht nervös auf dem Boden hin und her. Sie zwang sich dazu, Emma anzuschauen, obwohl ihr Unterbewusstsein, die ganze Zeit in eine andere Richtung schauen wollte.

„Mich wundert es, wie viele von den Leuten aus unserer Schulzeit geheiratet haben.“ Emma musste schon immer das Offensichtliche aussprechen. Trisha fragte sich, ob er geheiratet hatte. Sie war zu nervös gewesen, um auf seinen Ringfinger zu achten.

„Darauf habe ich gar nicht geachtet. Wer denn so?“, hakte Trisha nach. Emma zählte ein paar Namen auf, seiner war nicht darunter. Sie wusste nicht, ob sie das erleichterte oder nur noch nervöser machte.

Sie sah aus dem Augenwinkel eine Bewegung auf der aufgebauten Bühne und ein anschließendes Quietschen des Mikrofons, wovon sie sich kurz die Ohren zuhielt. Die Technik war wohl ebenfalls die Gleiche, wie vor zwanzig Jahren.

„Meine verehrten Damen und Herren, ich darf Sie alle recht herzlich Willkommen heißen“, verkündete Mona mit ihren knallrot geschminkten Lippen ins Mikrofon.

„Ich freue mich sehr, dass Sie alle gekommen sind.“ Darauf folgte eine kurze Rede über ihre ehemalige Stufe. Bis sie schließlich zu dem Teil kam, der auf der Einladung stand.

„Für heute haben wir von unserem Veranstaltungsteam deshalb etwas Besonderes überlegt. Wie Sie alle bereits aus der Einladung entnehmen konnten, kommen wir jetzt zu dem spaßigen Teil des Abends. Ich möchte mich schon mal von vornherein an unseren Techniker Hans bedanken, der heute die Karaoke Maschine bedient. Einen herzlichen Applaus für Hans.“ Hans winkte von der Seite in die Menge. Trisha klatschte brav mit. Sie wusste, dass heute Karaoke angesagt war, genauso wie sie wusste, dass sie sich heute vorgenommen hatte, die stille Beobachterin zu sein. Sie war noch nie gerne im Rampenlicht gewesen. Doch heute wünschte sie sich komplett unsichtbar zu sein.

Mona kündigte bereits die erste Freiwillige an. Trisha erkannte Jane, die mit ihren Locken und ihrer Stimmgewalt, während sie sanft auf ihrer Gitarre spielte, noch zwanzig Jahren später in ihrer Erinnerung geblieben war. Sie hörte ihrer wunderschönen Stimme zu, während Trisha die letzten Stücke ihres Kuchens aß.

Von der Seite tauchte plötzlich Mandy auf.

„Gute Nachrichten.“ Mandy grinste sie breit an. „Du bist die Nächste!“ Trisha verschluckte sich an ihrem letzten Kuchenstück, welches sie gerade runterschlucken wollte. Sie hustete ein paar Mal laut auf, woraufhin sie nur noch röter wurde.

„Bitte was?“, fragte sie, während sie nach Luft schnappte.

„Man kann die Leute, die singen sollen, vorne bei Hans eintragen. Da musste ich natürlich sofort an dich denken und unsere tolle Performanz auf Klassenfahrt. Natürlich habe ich das Lied aus deinem aktuellen Lieblingsfilm genommen. Auch wenn ich persönlich mit diesen ganzen Disneylieder nicht wirklich etwas anfangen kann. Aber ich weiß, was für ein großer Fan du bist“, erklärte ihr Mandy. Trisha stand sprachlos da, als Jane gerade ihren wohlverdienten Applaus bekam. Dann wurde Trisha auch schon auf die Bühne gerufen. Doch sie blieb regungslos stehen.

„Trish, komm auf die Bühne“, forderte sie Mona von der Bühne aus auf. Trisha schüttelte wild den Kopf.

„Nein“, sagte sie, doch es ging in dem höflichen Klatschen des Publikums unter. Mandy gab ihr einen Stups nach vorne. Mit weichen Knien ging Trisha auf die Bühne zu. Sie wollte am liebsten gar nicht weitergehen, schien aber keine andere Wahl zu haben. Ihr Blick traf ihn. Er stand etwas weiter weg, woraufhin sie zu Boden schaute, während sie die Bühne betrat.

„Freut uns, Trish. Die Bühne gehört dir“, kündigte Mona an und ließ sie alleine auf der Bühne stehen. Sie stellte sich an das Mikrofon und sah auf den Bildschirm, der am unteren Rand der Bühne platziert wurde, um den Karaoke Text anzuzeigen. Als sie den Titel sah, wusste sie welches Lied Mandy gemeint hatte. Die ersten Töne von Into the Unknown erklangen. Das Lied einer Eiskönigin, die den Ruf einer Stimme hört, diesen jedoch verweigert, weil sie nicht aus ihrer gewohnten Welt ausbrechen möchte bis sie schließlich den Ruf dieser Stimme folgt.

Bei der ersten Strophe war Trisha noch zurückhaltend, doch als der rufende Refrain auf dem Bildschirm aufleuchtete, konnte sie nicht anders. Eine Stimme aus ihrem Herzen fing laut an zu singen. Sie fing an, über die Bühne zu tanzen. Sie sah durch die Turnhalle, die Gesichter und ihr wurde klar, dass die meisten dieser Menschen ihrem Ruf nicht gefolgt waren. Sie wusste es, weil sie selbst dazu gehörte.

Während sie sang, erinnerte sie sich an alles. Wie sie an dieser Schule war und ihr Leben noch ein Traum voller Abenteuer und Reisen war, die sie alle noch erleben würde. Zwanzig Jahre später war der Traum entzaubert worden. Sie hatte nach dem Studium einen Beruf in einer kleinen Tageszeitung, die kaum noch Leser hatte, angenommen. Damals sagte sie sich, es sei nur ein vorläufiger Zwischenstopp für ihre zukünftige Karriereleiter. Heute arbeitete sie immer noch dort. Sie hatte sich nie ins Unbekannte getraut, sondern war lieber ihre gewohnten Bahnen geschwommen. Sie hatte nicht ihren Ängsten getrotzt, sowie die mutige Eiskönigin, die von ihrem Aufbruch sang. Doch in dem Moment, als sie von ganzem Herzen sang und dazu tanzte, während eine ganze Menschenmenge sie anstarrte, traf es sie wie ein Blitz. Sie hatte nichts zu verlieren. Alle in diesem Raum dachten, es sei zu spät. Aber es würde nie zu spät sein. Und als sie die letzte Zeile sang und sich dabei fragte, wie sie dem Ruf ins Unbekannte folgen konnte, kannte sie die Antwort.

Als der Applaus ertönte, steckte sie das Mikrofon zurück in den Halter und lief von der Bühne. Sie sah bereits von dort aus die Türschwelle, die sie überschreiten musste, um auszubrechen. Alles um sie herum, verschwand aus ihrer Wahrnehmung und sie lief zu der Türe, hinaus auf dem Parkplatz, wo ihr kleiner silberner Volvo stand, der nur darauf wartete, sie in ihr Abenteuer zu fahren. Sie ging direkt darauf zu und setzte sich rein. Für einen Augenblick musste sie ihre Gedanken sortieren, um zu begreifen, was sie hier gerade tat. Wo wollte sie hin? Doch sie wusste, dass sie die Antwort erst am Ende ihres Weges erkennen würde. Sie würde sich vom Wind dorthin tragen lassen.

Der Zündschlüssel steckte bereits und sie startete gerade den Motor, als sie ein Klopfen von der rechten Seite hörte. Ein Gesicht tauchte hinter der Scheibe des Beifahrersitzes auf. Dort stand er. Sie ließ mit zittriger Hand das Fenster runter.

„Ich wollte mit dir reden“, verkündete er. Als er so dort stand, kein blitzendes Gold an seinem Ringfinger, wusste sie, dass dies kein Zufall sein konnte. Alles fiel an diesem Tag zusammen.

„Steig ein“, verkündetet sie.

„Was?“ Er wirkte irritiert.

„Ich sagte, steig ein“, wiederholte sie ruhig und schaute ihn dabei nicht an.

„Du fährst aber nicht mit mir weg“, sagte er halb im Scherz, doch in seinem Gesicht war ein besorgter Ausdruck zu erkennen.

„Doch, genau das hatte ich vor.“ Ihre Stimme ließ keinen Platz für Ironie. Diesmal nicht.

„Hör zu, ich weiß nicht, was du vorhast oder wo du mit mir hinwillst, aber ich kann hier nicht weg“, erklärte er, während er immer noch vor dem Fenster stand.

„Warum nicht?“ Sie wusste, dass sie ihren Ruf folgen musste, doch sie wusste auch, dass ihre Reise einen Gefährten brauchte. Und dieser Gefährte hatte soeben gegen ihre Scheibe geklopft.

„Naja, ich bin mir gerade nicht sicher, wo du hinwillst. Ich habe eine Arbeit zu der ich morgen früh erscheinen muss und wenn das, was du vorhast, länger dauert, könnte es etwas spät werden.“

„Liebst du deine Arbeit?“ Die Frage brachte ihn sichtlich durcheinander.

„Wie meinst du das?“

„So wie ich es sage.“ Sie starrte immer noch geradeaus. Während des ganzen Gesprächs, hatte sie ihn kein einziges Mal angeschaut.

„Naja, es ist halt ein Job wie jeder andere. Was spielt das für eine Rolle?“ Jetzt erst blickte sie ihm direkt in die Augen.

„Dann hast du auch nichts zu verlieren. Und jetzt steig ein!“, forderte sie ihn ein letztes Mal auf. Er zögerte kurz, stieg aber schließlich ein.

Dann ließ sie den Motor aufheulen und fuhr los. Dem Unbekannten entgegen.


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Die Acht der Schwerter (14. Teil)

Quelle: A.E.Waite Tarot

Lizzy stand vor dem Spiegel und zog sich ihre Ohrringe an, die im Licht aufblitzten, wie funkelnde Diamanten. Ihr roter Lippenstift betonte ihre blasse Haut. Das nervöse Kribbeln in ihrer Bauchgegend wollte einfach nicht weggehen. Sie fühlte sich alles andere als bereit, doch sie musste losgehen, um nicht zu spät zu kommen. Ihre Nervosität stieg immer mehr an, je näher das Treffen mit Marco Marchesi rückte. Sie konnte sich kaum auf den Beinen halten, woran ihre Absatzstiefel ihren Beitrag dazu trugen.

Nach ihrem letzten Date, hätte sie am liebsten nie wieder eins gehabt. Doch mit ihm war es anders. Sie fühlte sich High von ihren Gefühlen. Während sie mit Gina auf der Arbeit redete, musste sie ununterbrochen lächeln. Sie konnte es nicht abstellen. Je näher der ersehnte Abend rückte, desto aufgeregter wurde sie. Die Nervosität begleitete sie bis zu dem verabredeten Treffpunkt. Er war einen Tag, nachdem er sie gefragt hatte, ob sie mit ihm Picknicken würde, in ihren Laden gekommen und hatte ihr den Treffpunkt und die Uhrzeit mitgeteilt. Es war ein öffentlicher Park, wo um diese Uhrzeit noch einige Leute unterwegs sein würden, sodass sie sich nicht ganz allein abgelegen trafen, aber trotzdem noch genug Privatsphäre hätten.

Lizzy sah ihn schon vom Weiten unter einem Baum sitzen. Er saß auf einer ausgebreiteten, karierten Picknickdecke und beobachtete gerade ein Eichhörnchen, welches nur ein paar Meter von ihm entfernt entlanghuschte. Die Sonne bewegte sich langsam gen Westen. Als sie näherkam, schaute er in ihre Richtung auf. Sie hatte extra ihr grünes Kleid angezogen, womit sie nicht zu sehr im Park auffiel, ihre Natürlichkeit aber nur umso mehr unterstrich, während ihr rot geschminkten Lippen einen starken Kontrast bildeten. Hatte sie das bewusst so ausgewählt?

Während sie auf Marco zukam, stand er auf und lächelte ihr entgegen. Sie bemerkte, wie er sie kurz musterte, dann aber wieder sofort in ihre Augen schaute.

„Du siehst sehr schön aus“, begrüßte er sie mit einem Kompliment. Ihre Wangen waren leicht gerötet.

„Danke. Du siehst aber auch nicht schlecht aus.“ Er hatte ein blaues Hemd mit einer dunkelblauen Jeans angezogen, was sowohl schick als auch zugleich lässig wirkte. Nachdem sie sich umarmt hatten, deutete er auf die Decke.

„Setzt dich!“, forderte er sie höflich auf und sie setzte sich hin.

„Ich hoffe, du magst Oliven“, eröffnete er das Gespräch und kramte dabei eine Tupperdose aus der von ihm mitgebrachten Kühlbox hervor.

„Woher weißt du das nur?“, lächelte Lizzy ihn an und nahm all ihren Mut zusammen, um leicht verführerisch ihren Mund zu öffnen, damit Marco ihr eine Olive in den Mund legen konnte. Einen kurzen Moment zögerte er, doch entschied sich dann dafür, ihr die Olive an ihre rot geschminkten Lippen vorbeizuführen.

„Ich bin so froh mit dir hier zu sein. Dieser Ort liegt mir sehr am Herzen und ich liebe es ihn mit einer hübschen Frau, wie dir teilen zu können.“ Sie musste immer mehr Grinsen, während sie die Olive zerkaute und hinunterschluckte. Der Wind zog an ihr vorbei und ein angenehmer Schauer durchfuhr ihren Rücken.

Die Sonne traf bereits den Horizont und sie hatten seit zwei Stunden keinen Moment aufgehört zu reden.

„Deine Lieblingsfarbe ist rot? Das hört man selten“, stellte Lizzy erstaunt fest.

„Es hat so etwas Kräftiges, feuriges“, erklärte er ihr seine Ansicht.

„Also ich bleibe bei Blassrosa. Das Zarte, leichte. Es kann dezent überall eingesetzt werden“, gestand sie ihm. Sie musste lächeln. Obwohl sie über etwas scheinbares Belangloses wie Farben ging, konnte sie das Gefühl nicht abstellen, dass das zwischen ihnen was Besonderes war.

„Marco?“ Von der Seite tauchte eine Frau auf. Lizzy wendete ihren Blick zu ihr hin. Sie erkannte eine große südländische Schönheit mit makelloser Haut und einem dunkelroten Kleid. Marco wendete seinen Blick ebenfalls auf die Frau, die direkt auf sie zukam und schließlich vor ihnen stehen blieb.

„Wie geht es dir?“ Sie begrüßte ihn überschwänglich und nahm den sich noch aufrichtenden Marco in den Arm.

„Gut“, sagte er zu ihr, ohne jedoch sich hinter die Fassade schauen zu lassen, wie er das Auftauchen der Frau empfand.

„Deine neue Freundin?“, sagte sie halb zu ihm, halb zu ihr. Ihr Grinsen war zu breit aufgesetzt.

„Nein“, stellte Marco vehement klar. Ein Stich durchfuhr Lizzy. Ihr war bewusst, dass es erst ihr erstes Treffen war, aber neben der offensichtlichen Vertrautheit, die bis eben noch zwischen ihnen geherrscht hatte, hatte sie sich eine etwas offenere Aussage gewünscht. Sein Nein schien hingegen keinen Spielraum für mehr zuzulassen.

„Ach, tut mir leid. Ich habe mich gar nicht vorgestellt. Ich heiße Kathy. Sicher hat Marco dir schon von mir erzählt?“

„Ehrlich gesagt nicht“, gab Lizzy offen zu.

„Wieso hast du ihr es denn nicht erzählt?“, wandte sich Kathy an Marco.

„Ich sah keinen Grund dazu“, erwiderte Marco ohne eine Mimik zu verziehen.

„Was denn nicht erzählt?“ Lizzy konnte die Situation nicht einordnen. Sie hörte nur ihr aufgeregtes Herz klopfen, welches sich nicht beruhigen konnte, als würde es sie vor dem, was ihr bevorstand warnen wollen. Kathy wandte sich direkt zu ihr.

„Ich bin seine Frau.“

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Die letzten Tage des Timothys – Eine Kurzgeschichte

Es waren die letzten Tage des Timothys angebrochen. Aus ihnen gab es kein Zurück mehr. Timothy lebte schon lange an diesem Ort, als er die Botschaft bekam, dass nun alles ein Ende nehmen würde. Zumindest alles was ihn betraf.

Er nahm es mit Fassung auf. Was bei seinem Charakter hieß, dass er seine Teetasse gegen die Wand warf, bevor er sich schließlich resigniert auf seinem Sessel niederließ. Die Scherben lagen zerstreut auf den Boden, zwischen denen der zuvor heruntergefallene Telefonapparat lag. Er verweilte dort drei Stunden regungslos, ohne ein Wort zu sagen. Seine Frau Minnie traute sich nicht ihn anzusprechen. Nach einiger Zeit kam sie an und nahm tröstend seine Hand in die ihre, während sie vergebens versuchte, die richtigen Worten zu finden. Hatte er sie geliebt? Die Frage tauchte plötzlich in seinem Geist auf. Sie waren noch sehr jung gewesen, als sie im Sommer in der Provence geheiratet haben.

Die goldenen Tage glichen verblassten Erinnerungen. Der Schleier der Vergangenheit verdeckte ihre gegenseitige Liebe zueinander.

Nie hatte er ihr von seiner Affäre mit seiner Studentin erzählt. Nie von der hübschen Doktorandin, für die er sie fast verlassen hätte. Nie von diesem einen Tag, wo er fest entschlossen nach Hause gehen wollte, um Minnie zu verlassen, bevor er von seiner Affäre aufgehalten wurde und sie ihm sagte, sie hätte ein Angebot aus Neuseeland bekommen, welches sie annehmen würde. Danach hatte er sie nie wiedergesehen.

Nun saß Minnie vor ihm, während im Hintergrund das laute Ticken der Uhr zu hören war. Seine Zeit lief ab. Er stand auf, ging wortlos an Minnie vorbei, direkt auf die Tür zu und verließ das Haus, in dem er fast über vierzig Jahre lang wohnte. Er wusste bereits beim Rausgehen, dass er es nie wiedersehen würde. Es gab kein Zurück mehr.

Er begann seine letzte Reise, die auch zugleich seine erste richtige Reise war. Noch nie war er dem gefolgt, wonach sein Herz ihn rief. Angesichts seines Todes hatte er das Gefühl keine andere Wahl mehr zu haben. Er hatte es zu lange ignoriert. Etwas in ihm drängte nach Draußen. Endlich zu leben, denn Tod war er schon sein ganzes Leben über gewesen. Das erste Mal würde er leben. Kurz musste er an seine früheren Träume denken. Als er jung war, drängte alles in ihm Schriftsteller und Drehbuchautor zu werden. Er hatte diesen Traum, mit vielen seiner anderen Träume, begraben. Aus Angst. Die Angst sich seinem selbstausgesuchten Schicksal zu stellen. Er flüchtete sich lieber in seine gewohnten Bahnen des Alltags und unternahm keinen Versuch daraus auszubrechen.

Jetzt erst erkannte er es; die Angst hatte ihn gelähmt. Er war nie frei, sondern hat sich selbst in dem Käfig gefangen gehalten, statt ihn zu öffnen. Was hätte er schon zu verlieren gehabt? Sein Leben? Das hatte er schon in den Momenten verloren, in denen er ständig gegen sich selbst handelte.

Seine Angst ließ ihn vor seinem eigenen Leben fliehen und nun war es die Angst vor dem Tod, durch die er sich seinem Leben stellte.

Er ging die Straße entlang und das erste Mal in seinem Leben, kannte er nicht sein Ziel.

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Die Mässigkeit (13.Teil)

Quelle: A.E.Waite Tarot

Jede Blüte braucht Zeit, um sich entfalten zu können. Lizzy wünschte sich, sie könnte dasselbe von ihren Gefühlen zu Marco behaupten. Aber sie wurde geradezu von ihnen überrollt. Das Einzige, was Zeit brauchte, war die Zeit bis er sie das erste Mal nach einem Date fragte.

Tage vergingen. Sie zogen sich langsam wie ein Kaugummi dahin. Das Café von gegenüber war immer noch in der letzten Aufbauphase, als Marco seinen Weg in Lizzys Café fand. Lizzy war gerade einen entkoffeinierten Kaffee für ihre Stammkundin Patty am Zubereiten, als er mit seinen perfekt zurückgegelten Haaren ins Café hereinspazierte. Sofort machte Lizzys Herz einen großen Satz nach oben, bevor es kontinuierlich schnell klopfte. Sie fühlte sich wie ein Hamster, der sich in einem Hamsterrad abstrampelte, ohne sich von der Stelle zu bewegen.

Tammy streichelte sich sofort um seine Beine, als wollte sie sagen: Ich mag dich. Er bückte sich zu ihr runter und fing an sie zu kraulen. Dabei huschte ein Lächeln über seine Lippen. Zwei Seelen, die sich gefunden hatten. Er stand auf und kam zu Lizzy an die Theke.

„Sie haben eine wundervolle Katze“, merkte er an. Lizzy tat desinteressiert und bereitete weiter den Kaffee zu, wobei sie etwas daneben schüttete, da ihre Hände zitterten.

„Ich bin kein großer Fan von langem Gerede, weshalb ich direkt auf den Punkt komme“, verkündete er. Gegen ihren Vorsatz, schaute Lizzy auf, unwissend welche Wendung dieses Gespräch nun nehmen würde.

„Ich bitte Sie am Freitagabend mit mir auszugehen.“ Einen Moment stand Lizzy sprachlos da. Ihr Mund war schneller, als ihre Gedanken.

„Ja“, kam es nur so aus herausgeplatzt. Sie wusste selber nicht, wo ihre plötzliche Entschlossenheit herkam. Marco grinste sie belustigt an.

„Das ist schön zu hören. Ich hätte mich vermutlich mein Leben lang selber auf die andere Straßenseite verbannt, hätten Sie Nein gesagt“, erklärte er lächelnd. Er stand wieder auf und wandte sich zum Gehen zu. Lizzy konnte nicht glauben, dass sie tatsächlich mit ihm Ausgehen würde. Dann drehte er sich ein letztes Mal zu ihr hin.

„Ich hoffe, Sie haben nichts gegen ein Picknick.“ Ohne eine Antwort abzuwarten, drehte er sich wieder um und verließ das Café, während Lizzy ungläubig am Tresen stehenblieb.

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Die Drei der Münzen (12. Teil)

Quelle: A.E.Waite Tarot

Lizzy erkannte ihn sofort. Wofür sie hingegen einen Moment brauchte, war die Erkenntnis, um wen es sich hier handelte. Ihre Konkurrenz. Ihr Herz, dass für einen Moment ausgesetzt hatte, macht drei Sprünge nach oben, bevor es zu Boden fiel.

„Sie sind der Eigentümer des Hemingways?“, fragte Lizzy ungläubig. Sie hoffte auf ein Nein.

„Ja“, antwortete er.

„Ich bin Marco Marchesi. Und Sie sind?“ Er fragte es mit einem freundlichen Lächeln auf den Lippen, was Lizzy zugehend verunsicherte.

„Lizzy. Einfach nur Lizzy.“ Sie konnte ihr unsicheres, für sie geradezu dämliches Verhalten, nicht erklären.

„Freut mich dich kennenzulernen, Lizzy. Kann ich dir weiterhelfen?“, fragte Marco zuvorkommend. Lizzy musste einmal tief Luft holen, bevor sie weiterreden konnte.

„Ich besitze den Laden gegenüber. Das Fitzgerald. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist, aber es ist ebenso wie Ihr Lokal ein Katzencafé und diesem hier nicht ganz unähnlich.“ Marco zog eine Augenbraue hoch. Ihm war die Distanz in ihrer Sprache durchaus aufgefallen.

„Sie meinen, Sie haben Angst vor mir, dass ich Ihr Geschäft ruinieren könnte“, stellte er fest.

„Nein, meine Kunden werden mir weiterhin die Treue dienen. Jedoch stelle ich mir für Sie diesen Standort dementsprechend wenig Vorteilhaft vor.“ Lizzy wusste, wie sie taktisch spielte. Sie erinnerte sich daran, wie sie als Kind Schach gespielt hatte. Ihr Opa erklärte ihr damals, dass Schach nichts anderes sei, als Krieg mit reinem Verstand und ohne Gewalt. Das Symbol wahrer Überlegenheit. Aber sie hatte noch nie eine Partie Schach gegen Marco gespielt.

„Um mich müssen Sie sich keine Gedanken machen. Der Kapitalismus lebt schließlich von Konkurrenz, nicht wahr?“ Er zwinkerte ihr zu und erwartete keine Antwort von ihr. In Lizzy kochte Wut auf. Wie konnte sie auch nur einen Moment in diesen Typen, mit seinem perfekt gegelten schwarzen Haaren und diesen wundervollen meerblauen Augen, verfallen sein? Lizzy schüttelte sich, als könnte sie dieses Gefühl, was in ihr aufkam, dadurch loswerden.

„Ich möchte keinen Streit mit Ihnen. Lassen Sie uns ein friedliches Nebeneinander ausprobieren. Ich bin auf dieser Straßenseite und Sie auf der anderen Straßenseite. Wie wäre das?“ Marco streckte ihr seine Hand entgegen. Ein Friedensangebot. Schachmatt.

„In Ordnung.“ Lizzy schlug in seine Hand ein, konnte aber nicht diesen kleinen trotzigen Widerstand auflösen, der sich ihrer innerlichen Beruhigung in den Weg stellt.

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